Wie fühlt sich ein Exoskelett an? Selbstversuche an der SLV Nord
Schweißer-Alltag: Zwangspositionen und 20 kg Last
Warum wird der Einsatz von Exoskeletten in der Schweißtechnik überhaupt so heiß diskutiert? Im ersten Teil der Veranstaltung konnten die Gäste zunächst umfangreiches Hintergrundwissen gewinnen. So gab André Quedzuweit, Leiter der Aus- und Weiterbildung an der SLV Nord, einen Überblick über die körperlichen Belastungen beim Schweißen und stellte dabei unmissverständlich klar: Jede Schweißaufsichtsperson ist in der Pflicht, bzgl. Gesundheits- und Sicherheitsaspekten alle einschlägigen Regeln und Vorschriften zu berücksichtigen. Ab einem bestimmten körperlichen Belastungsgrad, dem ein Schweißer an seinem individuellen Arbeitsplatz ausgesetzt ist, ist das Ergreifen von Gegenmaßnahmen zwingend erforderlich. Und ein entsprechender Belastungs-„Score“, der Handlungsbedarf bedeutet, ist schnell erreicht: Denn zu den häufigen Zwangshaltungen, die als solche bereits Muskeln und Gelenke belasten, summiert sich das Gewicht, das Schweißer zu tragen haben. Bereits die PSA bringt ca. 3-5 kg auf die Waage, ein MAG-Brenner mit Absaugung erreicht bis zu 6 kg, für Werkzeuge und Werkstücke kommt weiteres Gewicht hinzu – kurzum, ein Schweißer trägt mitunter 20 kg.
Exoskelette entlasten zu mehr als 30 Prozent
Mirjam Holl von der Abteilung Biomechatronische Systeme am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA stellte darauffolgend die Arbeit ihrer Abteilung vor, die u. a. darin besteht, ergonomische Risiken in Betrieben sensorgestützt zu erfassen und nach orthopädischen, sport-, trainings- und arbeitswissenschaftlichen Prinzipien zu untersuchen. Aus dieser Analyse und den örtlichen Gegebenheiten und Anforderungen leiten die Experten gemeinsam mit den Kunden individuelle Lösungen zur effektiven Entlastung ab. Dabei stehen Muskel-Skelett-Erkrankungen im Fokus, die vorwiegend durch kritische Belastungsmuster bei der körperlichen Arbeit verursacht werden. Laut Holl können beispielsweise häufig wiederholt durchgeführte Tätigkeiten an einem Arbeitsplatz minimal überschwellige Reize setzen, die aber langfristig zu chronischen Entzündungsreaktionen führen können (wie z.B. dem sehr schmerzhaften und langwierigen Tennisellenbogen). Im Gegensatz zur sportlichen Freizeitaktivität, wo ein Training gemäß der Tagesform angepasst werden kann, ist dies im Arbeitsalltag häufig nicht möglich.
Ein zentrales Projekt des Fraunhofer IPA und des IFF der Universität Stuttgart ist die Erforschung der Potenziale von Exoskeletten zur Reduktion von Überbelastungen des Muskel-Skelett-Apparates, z.B. durch die prospektive Studie EXOWORKATHLON®. Diese (siehe auch unser Bericht über den EXOWORKATHLON® an der SLV Nord) wird bereits für drei realitätsnahe und anwendungsorientierte Parcours durchgeführt: Logistik, Automobilindustrie und Schweißtechnik. Die bisherigen Ergebnisse in allen drei Parcours zeigen, dass die subjektive Belastung durch Exoskelette um über 30% reduziert werden kann. Neben dem subjektiven Belastungsempfinden werden bei der Studie auch biomechanische und metabolische Parameter sowie die Arbeitsqualität der Probanden erfasst und ausgewertet.
Virtuelles Schweißen: „Moderne Füße“ für die Schweißausbildung – zum Beispiel an der SLV Nord
Da viele Teilnehmende beim anschließenden Selbstversuch nicht nur das erste Mal ein Exoskelett tragen, sondern auch das erste Mal einen virtuellen Brenner in der Hand halten sollten, widmete sich ein dritter Vortrag den Hintergründen der Schweißsimulation. Die SLV Nord bietet in ihrer Virtuellen Schweißwerkstatt hierfür ein hochmodernes Equipment und legt seit Jahren einen besonderen Schwerpunkt auf die Integration des „Augmented Reality“-Trainings in die Schweißausbildung. Gerade in Zeiten des akuten Fachkräfte- und Nachwuchs-Mangels sei es umso wichtiger, die schweißtechnische Ausbildung „auf moderne Füße zu stellen“, so Referentin Anke Richter, Geschäftsführerin der WeldPlus GmbH. Die virtuelle Schweißausbildung sei eine einzigartige Chance, junge Leute für die Schweißtechnik zu begeistern. Das direkte Feedback des Systems zur gezogenen Schweißnaht inklusive exakter Fehleranalyse beschleunige zudem die Ausbildung deutlich. Darüber hinaus sei virtuelles Training nicht nur völlig ungefährlich, sondern auch preisgünstig und umweltfreundlich, da kein Material verbraucht und keine Gase ausgestoßen würden. Im internationalen Vergleich sei Deutschland bei der Integration von Schweißsimulatoren in die Schweißausbildung federführend.
Ausprobieren und Austausch mit den Experten
Die auf den Vortragsteil folgende Möglichkeit der „Self Experience“ wurde von den Gästen rege genutzt: Verschiedene Exoskelett-Modelle wurden anprobiert und ausprobiert, ob am virtuellen Schweißstand, beim testweisen Kisten-Heben oder Sich-Bücken. Auch dank der technischen Ausstattung der SLV Nord einmal selbst in die Augmented Reality des virtuellen Schweißens abtauchen zu können, war für den ein oder anderen Teilnehmer eine spannende neue Erfahrung. Wenige Türen weiter führten währenddessen Marco und Ines Schalk vom Fraunhofer IPA einen neuen Teil des EXOWORKATHLON® durch – die Veranstaltungsgäste konnten live bei der Studie zusehen. Alle drei anwesenden Vertreter des Fraunhofer IPA standen den Teilnehmenden ausführlich für alle Fragen rund um die Exoskelett-Technik sowie als Adressaten für das jeweilige persönliche Feedback zur Verfügung, sodass sich lebhafte Diskussionen entspannen. Ein interessanter Punkt zum Beispiel: Können Exoskelette auch unter der Schweißjacke getragen werden?
„Arbeitsschutz ist und bleibt ein wichtiges Thema für uns als SLV Nord“, so das Fazit von André Quedzuweit. „Es war uns ein großes Vergnügen, durch die Veranstaltung zum einen das Fraunhofer Institut erneut bei seinen Forschungen unterstützen zu können, und zum anderen unseren Kundinnen und Kunden diese Möglichkeit des Selbst-Ausprobierens mit direktem Kontakt zu den Experten anbieten zu können.“